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Traumata sind sehr weit verbreitet

Ein Trauma ist ein Ereignis, das die eigene Fähigkeit, es zu bewältigen, übersteigt und bei dem man niemanden hat, der einen beschützt. Kinder sind ständig überfordert, aber dann heben ihre Eltern sie hoch, trösten sie kümmern sich. Bessel van der Kolk warnt: „Wenn man jedoch allein ist und ein tiefes Gefühl des Schreckens und der Hilflosigkeit erlebt, besteht die Gefahr, dass man darin stecken bleibt.“ Wenn so ein Trauma das zentrale Nervensystem überwältigt, dann wird es zur endlosen Episode. Dann reagiert der Betroffene körperlich und mit seinem hormonalen Stresssystem weiter so, als ob das Trauma immer noch stattfände. Bessel van der Kolk meint damit das, was man als „Flashbacks“ bezeichnet. Der Mediziner Bessel van der Kolk forscht seit Jahrzehnten an der Behandlung von Traumata.

Für viele Menschen beginnt der Krieg zu Hause

Ein „Flashback“ ist eines der Hauptphänomene der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS): dass man sich schlagartig so fühlt, als wäre man im Trauma zurück. Typischerweise denkt man bei Traumata an Krieg, Verbrechen, Naturkatastrophen. Ist das heute immer noch so, oder ist das Leiden weiter gefasst. Bessel van der Kolk antwortet: „Mit großen Katastrophen fing es an – bis wir erkannten, wie weitverbreitet Traumata in der Bevölkerung sind.“ Für viele Menschen beginnt der Krieg zu Hause.

Es ist leider überhaupt nicht außergewöhnlich, dass eine Frau vergewaltigt oder sexuell genötigt wird. Im Laufe ihres Lebens passiert das etwa einer von fünf Frauen. Und es ist auch überhaupt nicht selten, dass Kinder daheim Gewalt ausgesetzt sind. Bessel van der Kolk weiß: „Bei einem von drei Elternpaaren kommt es zu Phasen häuslicher Gewalt. Die Zahlen sind enorm hoch.“ Im Moment hat die überwiegende Mehrheit der Menschen, die psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen, eine traumatische Vorgeschichte.

Viele Menschen ignorieren ihre unglückliche Kindheit

Man versucht aber häufig nur, die oberflächlichen Erscheinungsformen der Probleme zu lindern. Dazu kommt: Viele Menschen mit einer unglücklichen Kindheit wollen ignorieren, was ihnen widerfahren ist. Aber ihr Körper vergisst nicht. Bessel van der Kolk erklärt: „Er reagiert automatisch auf Situationen, die dem ursprünglichen Ereignis ähneln. So als ob das eigene Leben weiterhin in Gefahr wäre.“ Psychiatrische Diagnosen sind auch immer Kinder ihrer Zeit.

Jede Kultur pathologisiert andere Probleme. Zunächst erkannte Sigmund Freud das Trauma, sein Aufsatz von 1893 über Hysterie ist laut Bessel van der Kolk brillant. So ist es häufig mit dem Trauma: Die Leute wollen es vergessen. Aber das Trauma verschwindet nicht. Sigmund Freud sagte sehr richtig: Die Patienten erinnern sich vielleicht nicht daran, weil es zu schrecklich ist. Anstatt sich zu erinnern, wiederholen sie es. Das sagt er, ist ihre Art, sich zu erinnern. Traumatisierte Menschen neigen dazu, entweder vor Wut zu explodieren oder sich abzuschotten. Quelle: „Der Krieg beginnt zu Hause“, in Der Spiegel Nr.45 vom 5. November 2022

Von Hans Klumbies

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